Bücherpreise

1/2023

In dem Essay »Der Erzähler«, zuerst 1936 gedruckt in der Zeitschrift »Orient und Occident«, schmuggelt Walter Benjamin eine Frage ein: »Warum sind in Kiew die Bücher teuer?« [1] Die Benjamin-Exegese hat sich auf andere Aspekte des dicht argumentierenden Textes konzentriert – und die Frage nur am Rande beachtet. Aus Desinteresse? Aus Behutsamkeit? Die Frage nach Bücherpreisen ist nicht die drängendste, wenn man an Kiew denkt.

Glaubt man Benjamin, dann titelte die erste gedruckte Arbeit des russischen Schriftstellers Nikolai Leskow mit der Bücherfrage. Leskow, 1831 im zentralrussischen Gouvernement Orjol geboren, arbeitete, nachdem er das Gymnasium vorzeitig verlassen hatte, in der Verwaltung und wurde 1849 nach Kiew versetzt. Er beobachtete die Auswirkungen des Krimkriegs, verkehrte in universitären Kreisen, las die deutschen Linkshegelianer, beschäftigte sich mit Ökonomie und Statistik, debattierte in literarischen Zirkeln und pflegte Beziehungen zu den intellektuell eigenständigen Teilen der Kiewer Geistlichkeit. Nach Kriegsende 1856 begann Leskow, für die Handelsfirma Scott & Wilkins zu arbeiten, bevor er erste wirtschaftsjournalistische und gesellschaftspolitische Beiträge publizierte.

In Leskows Text geht es, dies lässt Benjamin beiseite, um den Verkauf eines Evangeliums in russischer Sprache: eine politisch relevante Information. Anfang Dezember 1926 ist Benjamin für acht Wochen nach Moskau gereist. Seine Russisch-Kenntnisse sind so begrenzt wie seine Reisekasse. Während das Moskauer Tagebuch einen ästhetisch aufregenden, politisch und persönlich düsteren Eindruck vermittelt, schreibt er rückblickend, schneller als Moskau selber lerne man Berlin von Moskau aus sehen.

Die Arbeit an der »Erzähler«-Problematik nimmt er 1933 mit ins französische Exil. Mit Leskow hat er sich anhand kleinerer Auswahlpublikationen befasst, vor allem aber auf der Grundlage der bei C.H. Beck zwischen 1924 und 1927 herausgebrachten neunbändigen Ausgabe. Den Leskow-Text »Warum sind in Kiew die Bücher teuer?« kennt Benjamin titelhalber aus dem biographischen Nachwort des Herausgebers Erich Müller, das 1927 im Anhang zum neunten Band erschienen ist. 

Wie großzügig sich der Passus im »Erzähler«-Aufsatz aus Müllers Nachwort bedient, zeigt der genauere Abgleich. Unter dem Decknamen »Dr. Freischütz« habe Leskow nach seiner ersten Publikation, durch den Erfolg motiviert, »eine Reihe von Aufsätzen über die Arbeiterklasse, das Mieten von Arbeiten, die Beseitigung der Trunksucht, die Evakuierung von Bauern, über Polizeiärzte, Ärzte der Aushebungskommissionen, Volksgesundheit« verfasst, d.h. »durchweg Fragen, für die er Vorschläge zu Verbesserungen machen konnte«, so heißt es in Müllers Nachwort. Von der gleichen Tendenz seien die 1860 im »Wegweiser für den Handel« erschienenen Aufsätze: »Über stellungslose Kaufleute in Rußland« und »Einige Worte über die Schankstätten von Branntwein, Bier und Meth«. Bei Benjamin lautet die Stelle elegant verknappend: »Eine weitere Reihe von Schriften über die Arbeiterklasse, über Trunksucht, über Polizeiärzte, über stellungslose Kaufleute« seien die Vorläufer von Leskows prominenteren Erzählungen.

»Warum sind in Kiew die Bücher teuer?« Die aufgegriffene Frage überzeugt in den spekulativ überhitzten Jahren der Weimarer Republik durch ihre Ernsthaftigkeit, durch ihr Bestreben, tatsächlich wissen zu wollen, ob und warum es sich so verhalten habe. Sie sucht sich nicht eine Überschrift zu einer Darlegung, sondern mögliche Auflösungen zu einem Problem. Sie ist weder aus dem Stand zu beantworten noch ist bei Leskow selbst eine fertige Antwort zu erwarten. Benjamin fragt nicht, ob Leskows Beobachtung, in Kiew seien die Bücher kostspielig, überhaupt zutrifft: Wie verhielten sich die Bücherpreise im Verhältnis zu den Brotpreisen wirklich?

Dabei wäre es lohnend, die Frage so buchstäblich wie möglich aufzufassen: Wie verlief die Preisentwicklung für Schriftgut in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Vergleich der west- und osteuropäischen Universitätsstädte? Die Ermittlung und die Relationierung der Bücherpreise, die Untersuchung der relevanten Bedingungen und Konsequenzen für die literarische Produktion und Rezeption hätte nur im Zusammenwirken von Literatur-, Politik‑, Ökonomie- und Bildungsgeschichte erfolgen können, so wie Leskow es in seiner Kiewer Zeit auf seine Weise betrieben hatte. Dabei wäre es dann nicht mehr allein um ein Evangelium in russischer Sprache gegangen, sondern um das Verhältnis von Literatur und Markt, um Zentren und Peripherien, Handels- und Distributionswege, literarische Zugänglichkeit und Teilhabe.

Die Buchhandels- und Pressegeschichte hatte, als Benjamin seinen »Erzähler«-Aufsatz schrieb, ihre ersten großen Standardwerke schon vorgelegt. Wäre er selbst ein geeigneter Autor zur Beantwortung der Leskow-Frage gewesen – sozialwissenschaftlich und bibliographisch versiert, an Balzac und Marx geschult, in europäischen Lesesälen genauso erfahren wie in den Antiquariaten und an den Ständen der »Bouquinistes«? Wenn, wie Benjamin konstatiert, die Zeit der Erzähler ferner rückt, beginnt dann die Zeit der Erklärer? Die Welt der Zahlen nach der Welt der Wörter?

Erdmut Wizisla, einer der besten Kenner des Berliner Nachlasses, hat unlängst in der Zeitschrift für Germanistik Benjamins Frage behandelt, wann man »soweit sein« werde, »Bücher wie Kataloge zu schreiben« [2]. Kataloge in Buchstaben oder auch in Zahlen? Bibliographien und bibliothekarische Findmittel lassen bis heute diskret die Preise weg. Historische Sammlungen von Verlags- und Antiquariatskatalogen ermöglichen hingegen präzise Erhebungen über die Preisentwicklung. Bibliothekssysteme der Zukunft, die in der Lage wären, die Frage nach Bücherpreisen in räumlichen und zeitlichen Koordinaten zu beantworten: ein grand projet. Dem praktisch denkenden Leskow hätte es gefallen: Bei der Expansion des russischen Buchmarkts Ende des 19. Jahrhunderts, beim Angebot herausragender Texte in hohen Auflagen und zu günstigen Preisen spielten Leskows Erzählungen neben denen Tolstois eine wichtige Rolle. Für die Alphabetisierungsrate waren die Preissenkungen mindestens so wichtig wie die Verbesserungen des Schulsystems. Eine Probeausgabe des »Posrednik«-Verlagsprogramms, das nach 1885 Tolstois Volksbildungsprogramm umsetzen sollte, enthielt Leskows Christus-Erzählung »Der Gast beim Bauern«. Sie wurde gratis verbreitet. Zu Benjamins eigener Zeit kam nicht der Erzähler, sondern die Niedrigpreispolitik von »Posrednik« an ein Ende: Die frühe Sowjetunion rationierte das Papier.

Anmerkungen

[1] Walter Benjamin: »Der Erzähler« [Notizen seit 1928; entstanden 1935; gedruckt in der Zeitschrift Orient und Occident N.F. 3, 1936]. In: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. II.2. Hg. v. Rolf Tiedemann [u.a.]. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1977, S. 438-465, S. 441; mit Verweis auf die Stelle bei Erich Müller-Kamp: »Nikolai Semjonowitsch Lesskow. Sein Leben und Wirken.« In: Nikolai Lesskow: Gesammelte Werke in neun Bänden. Hg. v. Johannes v. Guenther [u.a.]. Bd. 9: Am Ende der Welt. Nebst einer Biographie Lesskows. München: C.H. Beck, 1927, S. 227-344, hier: S. 240; die Schreibung »Kiew« im Beitrag orientiert sich am Wortlaut bei Benjamin.

[2] Erdmut Wizisla: »›Wann aber wird man soweit sein, Bücher wie Kataloge zu schreiben‹. Das Beispiel Walter Benjamin.« In: Zeitschrift für Germanistik N.F. 32 (2022), H.  1, S. 126-132.

Literaturhinweise (Auswahl)

Keßler, Peter: »Walter Benjamin über Nikolaj Leskov«. In: Zeitschrift für Slawistik 28 (1983), H. 1, S. 95-103.

Géry, Catherine: Leskov, le conteur. Réflexions sur Nikolai Leskov, Walter Benjamin et Boris Eichenbaum. Paris: Garnier, 2017, S. 10-15.

Werner, Nadine [u.a.] (Hgg.): Entwendungen. Benjamin und seine Quellen. Paderborn: Fink, 2019, darin: Verzeichnis der gelesenen Schriften, S. 416-454, hier: S. 442.

Zitierhinweis

Marcel Lepper: »Bücherpreise«. In: ders.: Blog 1/2023, 2. August 2023. URL: https://marcel-lepper.net/blog/. © Marcel Lepper 2023.